11. Oktober 2015: 30ter München Marathon

Text: Markus Zeidler; Bilder: Sportfreunde Attl

 

Und wieder 42 Kilometer: zum zweiten Mal in diesem Jahr tritt eine kleine Selektion der Sportfreunde Attl an zur Königsdistanz. Zuerst Hamburg, jetzt München. Die dreissigste Auflage des grossen deutschen Herbst-Klassikers ist eine perfekte Bühne für den krönenden Abschluss der Laufsaison: olympisches Flair, Sightseeing-Hotspots, ein bisschen Heimvorteil. Die Zeichen stehen gut - doch bevor der Startschuss fällt, tauscht einer der Sporties die Rollen...

Markus Zeidler über die Sinnlosigkeit einer Wettkampfvorbereitung, Speed-Dating mit dem Mann mit dem Hammer und die ganz grossen Momente einer Läuferkarriere.

 

 

Moosach, U-Bahnlinie 3: Als sich die Türen des Waggons öffnen und ich mit einem Bündel aufgeregter Sportfreunde und noch aufgeregterer Begleiter eintrete, überkommt mich der unwillkürliche Eindruck, mich in einem medizinischen Versuchslabor für Wundschutzpräparate zu befinden. Die ätherisch-wuchtige Geruchskulisse und die Tatsache, dass beinahe ausnahmslos jeder Fahrgast laufbeschuht und mit dem identischen magentafarbenen Plastik-Starterbeutel mit Veranstaltungs-Logo behangen ist, verraten: es ist Marathon, und alle gehen hin.

 

Noch etwa fünfzig Minuten bis zum Startschuss. Menschenmassen strömen hinauf in Richtung Olympiapark. Der Nebel hängt tief an diesem Morgen, sehr tief, und schneidender Wind drückt die Temperaturen empfindlich in den mittleren einstelligen Bereich. Zuschauer und alle anderen Nicht-Marathonisti tappen dick vermummt durch die frostige Szenerie, während die Protagonisten in ihrer temperaturtechnisch geradezu lächerlich unzulänglichen Läufer-Pelle einen frappierenden Kontrast dazu bilden. Steppmäntel treffen auf Trägershirts, lange Unterhosen auf Lycra-Shorts.

 

Von 0 auf 42: Simone ist das neue Freddy

 

Wir treffen Freddy oben auf dem Coubertinplatz. Auch er wird heute auf die vollen 42,195 Kilometer gehen. Trainiert hat er dafür allerdings nicht. Weder unmittelbar, noch sonst jemals zuvor. Freddys längste bisher jemals gelaufene zusammenhängende Strecke maß weit weniger als die Hälfte einer Marathondistanz. Das war ungefähr im Frühling dieses Jahres.

Mit der Teilnahme hier hat er sich vor gerade einmal drei Tagen quasi selbst überrumpelt. Für sein tollkühnes Unterfangen schlüpft Freddy in die Rolle Simones. Weil diese zwar längst für diesen Lauf angemeldet war, aus gesundheitlichen Gründen und auf ärztlichen Nachdruck hin nun aber kurzfristig nicht mehr teilnehmen darf, gibt sie Startnummer samt damit verknüpftem Namen an eine Ersatzperson weiter. Eher durch Zufall fällt die Wahl nach kurzer Suche auf Freddy, der in dieser unerwarteten Gelegenheit offenkundig den idealen Rahmen für einen sehr spannenden Selbstversuch sieht. Von null auf zweiundvierzig. Immerhin hat der Mann dafür heute Morgen sogar auf seine obligatorische Zigarette verzichtet. Und ausserdem die sechs-besten-Tipps-für-die-letzten-Stunden-vor-dem-Marathon beherzigt: Pizza am Abend zuvor, Beine hochlagern und Brustwarzen abkleben, um die Hälfte davon zu nennen. Über die genaue Streckenlänge erkundigt sich Freddy während des Warmups vorsichtshalber aber doch noch mal bei seinem Nebenmann. Ach, Zweiundvierzig? Oh.

 

Noch fünfunddreissig Minuten bis zum Startschuss:

Im Geiste gleiche ich alle noch anstehenden Tätigkeiten mit der uns verbleibenden Zeit ab. Gruppenfoto schiessen; aufs Klo gehen und dazu vorm Dixi Häuschen anstehen; ein anderes Dixi-Häuschen benutzen, weil der Typ der vor einem dran war das Toilettenpapier aufgebraucht hat; Kleidungsfrage final klären; den zugewiesenen Startblock ausfindig machen und sich zwischen all die anderen Teilnehmer zwängen; Schnürsenkel zum gefühlt dreizehnten Mal fester schnüren; Schnürsenkel zum gefühlt dreizehnten Mal wieder lockerer schnüren; Sportfreundin Gabi nochmal den Unterschied zwischen Brutto- und Nettozeit erläutern. Entspannung und mentale Fokussierung vor einem Wettkampf: eine Bestrebung, die in der praktischen Umsetzung ein ums andere Mal wieder einen leicht abstrakten Anstrich erhält.

 

Das grosse, mythische Ungeheuer Marathon

 

Startschuss. Ein Strom aus 23.000 Teilnehmern quillt zähflüssig hinaus aus dem Olympiapark, zuerst hinüber nach Schwabing, dann hinein in den Englischen Garten.

Die beiden Debütanten Christoph und Freddy, der heute Simone ist und umgekehrt, lassen es aus Startblock C heraus erst einmal sehr moderat angehen. Ein behutsames Heranpirschen an das grosse, mythische Ungeheuer Marathon. Der eine hat sich diese Methodik in den Wochen zuvor immer und immer wieder eingebläut; der andere weiss es nicht besser und imitiert in Ermangelung vergleichbarer eigener Erfahrungen schlichtweg das Verhalten des Ersteren.

Während ich selbst mein persönliches Ziel wieder irgendwo knapp unterhalb der magischen vier Stunden-Marke setze, verfolgt Gabi indes ganz offensichtlich grössere Ambitionen: völlig entfesselt schlägt sie Haken durch die rhythmisch auf und ab wiegende Läuferherde, so dass mir schon beim Zuschauen das Laktat einschiesst, und ward bald schon nicht mehr gesehen. Bis zum nächsten Sichtkontakt auf der Leopoldstraße bei etwa Kilometer sieben, wo der Kurs eine hundertachtzig-Grad Wende beschreibt und die Läufer auf einer langen Geraden einander entgegenkommen, hat die gute Frau bereits einen beachtlichen Abstand zwischen sich und mich gebracht.

 

Kälteschlaf und Partymeile

 

Max-Joseph-Brücke, Isarring, Oberföhring, Bogenhausen.

Zeit und Kilometer fliegen dahin, eher beiläufig nehme ich das grosse 21,1er Schild am rechten Strassenrand wahr. Ein Blick auf die Uhr verortet meine aktuelle Zwischenzeit im grünen Bereich. Die Verpflegungsstelle bietet wie alle anderen vorhergehenden und noch folgenden in der Hauptsache Wasser. Hin und wieder auch Isotonische Getränke und Bananen. Keine Cola, kein Redbull - das klebrige Zucker-Highlight für den erwünschten zwischenzeitlichen Kick bleibt aus. 

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Publikum. Die Stimmung ist solide - echtes emotionales Feuerwerk am Streckenrand hingegen kaum vorhanden. Waren die vergangenen beiden Marathon-Grossveranstaltungen in Wien und eben Hamburg kaum weniger als gefühlt durchgehende, zweiundvierzig Kilometer lange Partymeilen, herrscht hier in der Bayern-Metropole bis auf wenige Ausnahmen Kälteschlaf. Der Begriff ist vor dem Hintergrund der heutigen klimatischen Bedingungen noch nicht einmal abwegig. Doch während sich beispielsweise auf dem gesamten langen Abschnitt des Englischen Gartens die einzigen Berührungspunkte mit Zuschauern auf eine Handvoll mürrischer Spaziergänger mit Hunden beschränken, gibt es auch das andere Ende des Stimmungsspektrums. Ganz zum Schluss nämlich, auf den allerletzten Metern dieser grossen Challenge.

Doch bis dahin gilt es noch eine ganze Weile zu Laufen.


Ballett auf der anaeroben Schwelle

 

Ostbahnhof, Gasteig, Sendlinger Tor, Marienplatz.

Das Sterben beginnt. Langsam. Ab Kilometerstand zweiunddreißig Normalzustand. Im Läuferfeld um mich herum zeichnet sich einmal mehr das Bild ab, das diese fortgeschrittene Phase eines Marathonlaufs prägt: Wadenkrämpfe, Seitenstechen, Wasserblasen, schmerzverzerrte Gesichter. Stehenbleiben, Weitergehen, manchmal Aufgeben. Kontrolliertes Abrollen wird zu hölzernen Stampfschritten, geschmeidige Laufbewegungen zu einem bizarren Ballett auf der anaeroben Schwelle. Es ist ein bisschen wie Speed-Dating in leicht abgewandelter Variante: anstelle paarungswilliger Singles haben die teilnehmenden Läufer Mini-Dates; allerdings nicht mit einem ständig wechselnden Gegenüber, sondern immer mit einer einzigen, identischen Person: dem berühmten Mann mit dem Hammer.

 

Freddy (links, mit Christoph): "Wie lange ist nochmal ein Marathon?"
Freddy (links, mit Christoph): "Wie lange ist nochmal ein Marathon?"

Ich selbst bleibe von den geläufigsten Unbilden zwar verschont – dennoch beginnt meine Durchschnittsgeschwindigkeit langsam zu sinken. Den stets in Sichtweite agierenden Pacemaker mit der drei-Stunden-fünfundvierzig-Fahne auf dem Rücken muss ich irgendwann ziehen lassen.

Plötzlich, zwischen all den bunten Trikots vor mir, identifiziere ich eines, welches ich nur allzu gut kenne:„Stiftung Attl – Einrichtung für Menschen mit Behinderung“ – der Schriftzug auf knallorangefarbenem Untergrund spannt sich über den schmalen Rücken Sportfreundin Gabis. Ich bin verblüfft, sie noch vor Erreichen der Ziellinie wiederzusehen, aber offenbar fordert das hohe Anfangstempo seinen Tribut ein. Es dauert einige Minuten, bis ich sie letztendlich eingeholt habe, was aber passenderweise dem Zeitraum entspricht, den ich benötige um mir einen möglichst dummen Begrüssungsspruch auszudenken. Wir legen ungefähr eineinhalb Kilometer gemeinsam zurück, pushen uns gegenseitig, forcieren das Tempo – doch dann bleibt Gabi abrupt stehen. Muskuläre Probleme. Ein erster Wiederanlauf-Versuch schlägt fehl. Vielleicht wäre es in diesem Moment manierlicher von mir gewesen, selbst ebenfalls anzuhalten und so lange bei meiner Mitstreiterin zu bleiben, bis sie sich wieder berappelt gehabt hätte. Aber Marathon ist nun mal kein Mannschaftssport. Als Gabi meinen kurzen Moment des Zögerns bemerkt und mir daraufhin ein Zeichen gibt weiterzulaufen, fühle ich mich moralisch hinreichend entlastet, um meinen Weg alleine fortzusetzen.


Odeonsplatz, Pinakotheken, Bayrische Staatsbibliothek, wieder Schwabing.

Es geht nach Hause, auf die Zielgerade. Die allgemeine Stimmung hebt langsam an; auf dem Königsplatz komme ich immerhin sogar in den Genuss eines Soundchecks. Grönemeyer, Wanda, Fettes Brot und die anderen berühmten Sportfreunde, die Stillers, werden hier in wenigen Stunden ein Gratiskonzert geben, zugunsten der Helfer in der aktuellen Flüchtlingskrise. Einer der Roadies streckt einen Daumen nach oben.

Der Olympiaturm gerät in Sichtweite, bald darauf die unverwechselbare, spinnennetzartige Architektur aus Stahl und Glas. Kilometer einundvierzig. Ein langgezogenes, leicht gewundenes Asphaltband, links gesäumt von Absperrgittern, Zuschauern und grüner Wiese; rechts von schmutzigem Stadion-Beton. Da vorne, das grosse Marathon-Tor; nicht mehr weit, nur noch wenige Sekunden, und dann...


Herzklopfen. Gänsehaut. Siegerlächeln.

 

Genau dies prognostiziert der Veranstaltungs-Slogan auf der Homepage des dreissigsten München Marathons. Und behält Recht damit. Das grosse Finale, der Zieleinlauf im Münchner Olympiastadion, gehört zweifellos zu den besten Momenten einer Läuferkarriere.

Ein Tunnel aus Nebel, Lichteffekten und pulsierenden Beats; Eintauchen in das Oval der legendären Arena; tosender Applaus der Zuschauer; pures Adrenalin, das einen wie auf Flügeln über die letzten dreihundert Meter der Stadionrunde trägt; der Zielbogen, die Zeittafel - die finish line.

Es ist dieser eine grosse Augenblick, der jede Stunde Training, jede quälend lange Laufeinheit, jedes Verfluchen und jede Mühsal der wochenlangen Vorbereitung rechtfertigt; der Augenblick für den es sich lohnt, einen Marathon zu laufen.

 

Zeit: ein unnachsichtiger, bürokratischer Bastard!


Vier Stunden. Und leider: sechzehn Sekunden. Netto, nicht brutto.

Auf überbordende Euphorie folgt die ernüchternde Erkenntnis, meine mir selbst zugestandene Maximale mit geradezu schmerzhafter Geringfügigkeit überschritten zu haben. Es gibt nichts annähernd so brutales wie sechzehn Sekunden, die in einem Marathon-Wettbewerb hinter einer vollen Stunde stehen. Zeit - was für ein unnachsichtiger, bürokratischer Bastard!

Aber Schwamm drüber, denn umso mehr freue ich mich über die Erfolge meiner Mitstreiter:

Gabi kommt acht Minuten nach mir ins Stadion – offensichtlich konnte sie ihrem zwischenzeitlichen Tief erfolgreich vermitteln, wer hier die Chefin im Laufstall ist und kämpft sich nun beherzt ins Ziel.

Ein Lächeln fällt dennoch schwer, denn – das ist ganz klar - hat die Frau mit den knappen Laufpants heute mit einem weit besseren Ergebnis gerechnet.


Weitere neunzehn Minuten später geht das nächste orangefarbene Trikot auf die finalen Meter. Es ist Christoph, dessen aktuelle Gesichtsfarbe ganz vorzüglich mit seinem Oberteil korrespondiert und der heute zum ersten Mal in seinem Leben die ehrwürdigste aller Laufdisziplinen erfolgreich hinter sich gebracht hat. Mit einer Zeit von knapp unter viereinhalb Stunden liegt er zudem auch noch in seinem zuvor realistisch eingeschätzten Zeitfenster und freut sich somit völlig zu Recht auf die in Aussicht stehende Siegerzigarre.


Absage an die Vernunft

Dann werden wir Zeuge von etwas Unerwartetem: Freddy erreicht das Innere des Olympiastadions. Aus eigener Kraft, unter lauten Simone! Simone!- Schlachtrufen und mittels einer Fortbewegungsart, die mit leichten Abstrichen durchaus noch als Laufen zu charakterisieren ist. Derselbe Freddy, der Anfang der Woche noch den Begriff Marathon googeln musste und kaum weniger in das heutige Umfeld passen würde, wenn man ihn aus einer fernen Zukunft direkt hierher gebeamt hätte. Derselbe Freddy, der es in wenigen Sekunden geschafft haben wird, 42,195 Kilometer zurückzulegen, praktisch aus dem Stand. Und ja, derselbe Freddy, der für die Bewältigung dieser Mammutaufgabe noch nicht einmal annähernd das maximale Zeitlimit ausschöpfen muss - sondern exakt 04:37,26 Stunden dafür benötigt.

 

Es ist eine Absage an sämtliche Konventionen, ja, an die Vernunft schlechthin. Doch das Resultat gibt ihnen Recht, zuerst Simone in Hamburg, jetzt Freddy in München: ein Marathon funktioniert auch ohne Übung. Zumindest bei einigen Wenigen.

Wir anderen, wir Lauf-Normalos, wir überwältigender Rest von Standard-Marathonisti, die wir in biederen Strukturen denkend pflichtschuldig unsere Trainingspläne abackern, die wir ohne zu hinterfragen annehmen, das Bestehen bei einem Langdistanz-Wettkampf hänge zwangsläufig mit stetiger körperlicher Ertüchtigung und eiserner Disziplin zusammen, werden mit einer Frage zurückgelassen, über die es sich durchaus nachzudenken lohnt: was könnten wir nur in all den Stunden, den Wochen und Monaten anstellen, die wir sonst immer für unsere Vorbereitung vergeuden?

Vielleicht noch mehr Marathons laufen. Vielleicht aber auch nicht.

 

 

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